Text: Splitter Orchester Berlin
by Nina Polaschegg
Das Orchester – DIE Besetzung klassischer Musik! Vom Barockorchester in der Kirche, zum Gotteslob sich erhebend, seinem weltlichen Pendant am Fürsten-, Königshofe, über die großen Orchester im bürgerlichen Konzertsaal bis hin zu staatlich subventionierten Rundfunk-Sinfonieorchestern zur Pflege der Tradition und, gelegentlich zumindest, auch der Zeitgenossenschaft. Das Orchester: Statussymbol hochkultureller komponierter Kunstmusik. Freilich, auch in anderen Kulturen gibt es Orchester: zur Pflege der Kunst, aber auch des Rituals. Hierzulande nicht zu vergessen die Tanz- und Unterhaltungsorchester und Jazzorchester oder, um die genrespezifische Bezeichnung zu verwenden, Big Bands. So sehr sie sich in Funktion und Repertoire voneinander unterscheiden, haben sie doch eines gemeinsam: Die Orchestermusikerinnen und -musiker sind Ausführende, stehen ganz im Dienste des aufzuführenden Werkes oder des Ritus. Sie sind quasi Untergebene von Komponist(in) und Dirigent(in). Die Hierarchien sind auch sonst klar verteilt: Dirigent, Stimmführer, »der Rest«. Schon in Jugendorchestern wird um die vorderen Geigenpulte gestritten… Die Funktion der Instrumentengruppen in Melodieführer, Bassfunktion und Füllstimmen, auch sie wurde traditionellerweise selten gebrochen.
Und dann finden sich – und dies schließlich nicht zum ersten mal – ausgerechnet frei Improvisierende zu einem Orchester zusammen?
Improvisieren im Orchester – warum?
SPLITTER ORCHESTER – Improvisierende in einer 24-köpfigen Besetzung, die den historisch belasteten Begriff »Orchester« ganz bewusst im Titel führen? All diese Hierarchien zu hinterfragen, neu zu befragen, das ist eines der Ziele der Improvisierenden aus Berlin. Dass ein Leben völlig ohne Hierarchien Utopie bleiben muss, das allerdings ist den Mitgliedern des Splitter Orchesters sehr wohl bewusst. Und genau das zu reflektieren, darum geht es, wie Burkhard Beins an einem Beispiel erklärt. »Es ist ja auch so, dass Hierarchien sich selbst etablieren. Man kann nicht davon ausgehen, dass Hierarchien einfach verschwinden. Die setzen sich doch immer wieder durch. Es geht uns darum, genau das wahrzunehmen und dagegen zu steuern. Die Hierarchien wandern zu lassen, so dass z.B: jeder einmal das Orchester oder die Probe leitet. Manche stehen mehr im Vordergrund, andere weniger. Und wir versuchen nun, dies bewusst wahrzunehmen und dann auch die stilleren Leute zu ermutigen, aktiver zu sein, auch einmal in der Vordergrund zu treten.«
»Personally, I want the music to be flexible. We're not trying to ignore essential hierarchies, but be flexible with them. When we're working on a composition, it's natural for whoever presents the piece to lead the group, but more often than not, a composition gets thrown around very quickly becoming something fundamentally different – and therefore the responsibility of the group, not the person who presented the piece. That's the experiment. Not to ignore naturally occurring hierarchies, but to use them. Most long standing improvising groups would say they are trying to break down hierarchies and traditional roles, but essentially the role of the drums, the bass players, the horns, has been the same as its ever been. The form might have changed, but the essential function has remained. We're working on the physical roles of sound – we're all able to play on the top, or the bottom, to play function – not to ignore the power of fundamental vibrational / sonic reality, but be as flexible as possible; to be absolutely aware at all times«, meint auch Clayton Thomas, der, zusammen mit Clare Cooper, das Splitter Orchester ins Leben gerufen hat. Die beiden Australier haben Erfahrung mit Großbesetzungen. Schon in ihrer Heimat hatten sie ein solches Orchester gegründet. Allerdings unter anderen Voraussetzungen. Das »Splinter Orchestra« hatte eher Workshop-Charakter. Es diente dazu, jungen interessierten Musikerinnen und Musikern die Welt der freien Imrpovisation aktiv und im gegenseitigen Austausch näher zu bringen. Pionierarbeit sozusagen. Das Splitter Orchester versammelt hingegen 24 erfahrene Improvisierende mit durchaus unterschiedlichen Backgrounds und dennoch einer gemeinsamen Basis. Zudem solche Musikerinnen und Musiker, die allesamt dasselbe Ziel haben: die Utopie eines Orchesters als einer sozialen Gruppe, die mit ihren unausweichlichen Hierarchien flexibel und demokratisch umzugehen versteht und sie »sozial verträglich«, aber auch ästhetisch-musikalisch zu nutzen versteht.
»Ich finde, mit einer so großen Gruppe zu arbeiten in dieser Form ist natürlich ein musikalisches Experiment, aber zum gleichen Grad auch ein soziales Experiment, v.a. Wenn man darauf verzichtet, vorher Strukturen festzulegen oder Rollen zu verteilen, wer was macht.«, pointiert Burkhard Beins. Clayton Thomas geht noch weiter, sieht die Arbeit als politische. Gregor Hotz, der als Organisator und Logistiker des Orchesters fungiert, unterstreicht diesen Aspekt oder Wunsch. »In meiner Meinung dieser Wahrnehmung dieser Szene, die einen extrem politischen Ursprung hat, die frei improvisierte Musik, der Free Jazz usw. Ich denke, diese ganzen Aspekte sind eher in den Hintergrund geraten in den letzten zehn Jahren, weil die ganze Diskussion sich immer stärker auf das Ästhetische konzentriert hat. Das Orchester ist auch ein Ansatz für mich, die ganzen sozialen und politischen Aspekte, die diese Musik hat, stärker zu bearbeiten. Wie so ein Orchester als Gruppe ein revolutionäres Moment hat und ein Minimodell einer Gesellschaft ist auf eine Art. Wie kommt man wieder zurück zu diesen sozialen, politischen heftigen Diskussionen über die Musik?«
Das Orchester als soziales Experiment: Scratch
Zurück in die 1960er Jahre. »Treatise«, die wohl bekannteste graphische Partitur für Improvisierende von Cornelius Cardew, sie könnte dem Splitter Orchester als Etüde, als Übung dienen. Und der Komponist Cornelius Cardew, einstiger Assistent Karlheinz Stockhausens in Köln und Improvisator war es, der 1969, zusammen mit Howard Skempton und Michael Parson das Scratch Orchstra ins Leben gerufen hatte. Als Maoist verfolgte auch er eine Utopie – allerdings radikaler und utopischer als das Splitter Orchester. Auch für Scratch galt: Jeder sollte Konzepte und Spielanweisungen vorschlagen, die Leitung rotierte. Musikalisch freilich hörte sich die Musik anders an. Bei Scratch stand mehr das soziale Projekt im Vordergrund: Vor allem aber die Idee, dass Improvisieren ein jeder könne. Damit eng verbunden war die Idee, sich vom damals als primär bürgerlich verstandenen Anspruch des Musik-Lernens zu verabschieden. Musik und Kunst für alle ohne Voraussetzungen. Zudem: Es waren die Gründerzeiten der freien Improvisation, die politisch aufgeladenen Endsechziger und 70er Jahre noch dazu, in denen sich ästhetische Ansätze (die Cornelius Cardew etwa mit AMM präzise entwickelt hatte) mischten mit radikalen Sozialutopien.
Ähnlich, wenn auch längst nicht so groß besetzt, agierten zum Beispiel die Musica Elettronica Viva, u.a. mit Performances und musikalischem, sozialkritischem Straßentheater.
Improvisierende Großbesetzungen: (k)ein Novum (!)?
Improvisieren in Großbesetzungen, ein aktueller Trend? Zumindest scheint genau dies viele Improvisierende zur Zeit zu beschäftigen. Die Frage, wie man über die typischen, bekannten und gewohnten Interaktionsformen im Duo, Trio oder Quartett hinaus gehen könne, wie man Neuland nicht nur von der Materialsuche her oder sonstigen, primär stilistischen Fragestellungen in den üblichen Kleinbesetzungen her betreten könne. Sondern Erprobtes, Bekanntes neu befragen und in gewissem Sinne auch neu zu kontextualisieren vermöge. Gewiss: Improvisieren in Großbesetzungen ist kein Novum. Sozialkritische Utopien verfolgten Cornelius Cardew und seine WeggefährtInnen im Scratch Orchestra. Vielköpfige Free Jazz Besetzungen wie Alexander von Schlippenbachs Globe Unity Orchestra oder der Instant Composers Pool erweiterten den Jazz-Bigband Gedanken auf den Free Jazz und ins freie Spiel, kombinierten fixierte Passagen mit freien Interaktionen und Soli. Barry Guys London Jazz Composer’s Orchestra ging und geht noch einen Schritt weiter und interpretiert streng notierte Werke seines Leiters mit Freiheitsgraden, die allerdings speziell auf seine Musiker zugeschnitten sind. Lawrence Butch Morris entwickelte ein Zeichensystem, mit dem er Improvisierende in großen Bestezungen dirigiert, das London Improvisers Orchestra arbeitet ebenfalls mit Zeichen, allerdings mit wechselnden Dirigaten. Dies sind nur einige Beispiele, wie Musiker in den vergangenen Jahrzehnten versucht haben und versuchen, in Großensembles zu improvisieren. Seit einigen Jahren scheint die Idee der Großbesetzung auf neues, verstärktes Interesse zu stoßen. Orchester in Schottland (Glasgow Improvisers Orchestra) Portugal (Variable Geometry Orchestra) oder der Schweiz (Insubordinations Meta Orchestra), das deutsch-schweizer ensemble x und diverse andere improvisieren frei. Das James Choice Orchester in Köln interpretiert speziell für die Ensemblemitglieder geschriebene Kompositionen mit Freiheitsgraden. Das Wuppertaler Improvisationsorchester entwickelt, angeregt von Lawrence Butch Morris und dem London Imrpovisers Orchestra, eigene Zeichensysteme und Möglichkeiten für wechselnde Dirigate in Echtzeit etc.
Recht ähnlich wie das Splitter Orchester arbeitet das ebenfalls vielköpfige Ensemble ÖNCZkekvist. ÖNCZkevist das sind junge Improvisatorinnen und Improvisatoren aus Norwegen, Österreich und Tschechien, die sich 2009 im Rahmen eines Jugendprojektes zusammen getan haben um in diversen Kleinbesetzungen, v.a. aber auch im großen Orchester zu impovisieren, zu proben und über das Gespielte zu reflektieren. Ein Netzwerk junger Improvisierender. Die Mitglieder des Splitter Orchesters haben ein ähnliches Ziel, sind allerdings allesamt versierte und erfahrene Improvisierende.
Musik? Musik! Die Probenarbeit des Splitter Orchesters aus musikalischer Sicht
Splitter, das ist ein Orchester aus 24 Improvisierenden, Musikerinnen und Musiker aus verschiedensten Ländern, die sich in Berlin nieder gelassen haben. Deren musikalischer Background weit gespannt ist, deren stilistischen Vorlieben ähnlich, aber nicht hundertprozent deckungsgleich sind. Und genau in einem solchen Spannungsfeld zu arbeiten, zu spielen und vor allem auch zu reflektieren, ist die Idee der »Splitters«. »Überraschungen regen Ideen an«, meint Burkhard Beins. »Ich finde es interessant, dass die Gruppe nicht zu homogen besetzt ist. Es gibt zwar für alle einen common ground, eine große Schnittmenge, aber trotzdem ist genug Potential drin, dass überraschende Beiträge kommen, auch stilistisch, die für andere wiederum an der Grenze sind. Das ist ein erfrischendes Element, wenn jemand plötzlich eine Blueslinie spielt, was vielleicht ein anderer nie machen würde und auch nicht darauf kommen würde. Das bringt auch was in Bewegung.« Letztlich geht es darum, eine Balance zu finden zwischen den einzelnen Individualitäten und einem zu entwicklenden Gruppenklang, das Eigene zu Hinterfragen und aus einem Pool sowohl disparater als auch übereinstimmender Ideen Neues zu kreieren. Dabei helfen Übungskonzepte oder die Interpretation graphischer Partituren genauso wie die gruppendynamischen Prozesse mit wachen Sinnen zu verfolgen und sie sich entwickeln zu lassen. Diskussion über Gespieltes kommt dabei nicht zu kurz. In gewisser Weise ist das Splitter Orchester auch ein erweitertes und aufs Musikpraktische übertragene Labor Sonor, in dem ProtagonistInnen der Berliner Echtzeitmusikszene aktuelle Tendenzen reflektiert und diskutiert haben).
Improvisierende Großbesetzungen als aktueller Trend
Warum scheinen improvisierende Großbesetzungen seit einigen Jahren wie Pilze aus dem Boden zu schießen? Ein paar Vermutungen. Kleinbesetzungen und ihre Interaktionsschemata sind bekannt. Großbesetzungen erweitern die Komplexität der Interaktion. Zudem ist ein verbreiteter Reflexionsbedarf in Improvisationskreisen zu beobachten. Man möchte verstehen, reflektieren, auf diese Art die eigene Musik befragen und schließlich erweitern und fortschreiben. Gerade auch deshalb, weil sich die ästhetischen Entwicklungen als eine Art »Postmoderne in der Echtzeitmusik« in multipler Idiomexplosion erweitert haben: nach radikalen Ausgrenzungen, etwa im sogenannten »Reduktionsimus«, sind multiple Idiomatiken und komplexe Formen eines Re-Entrys einst Verdrängtem zu beobachten. Die Grenzen zu anderen Genres mögen heute fließender sein als noch vor zehn Jahren, die Berührungsängste sind geringer. Und gerade aufgrund solcher Ausfransungen einerseits, Integrationen und Verschmelzungen andererseits finden sich Improvisierende unterschiedlicher Backgrounds zusammen, um Grundlagen des (freien)Improvisierens neu zu befragen und die diversen, im positiven Sinne disparaten Idiomatiken, Ausprägungen und Spielansätze zusammen zu führen und Neues zu kreieren – ästhetisch wie als soziale Gruppe.
Das Splitter Orchester: ein Langzeitprojekt gewiss – utopisch?
Nina Polaschegg promovierte in Hamburg und lebt als Musikpublizistin und Musikwissenschaftlerin in Wien. Arbeitsschwerpunkte sind vor allem improvisierte, experimentelle und elektronische Musik, aber auch zeitgenössische komponierte Musik und Jazz