Text: Ein Spiel mit vielen Beteiligten
by Sabine Sanio
Ein Improvisationsorchester – im ersten Moment könnte man das für einen unauflösbaren Widerspruch in sich selbst halten: Orchester brauchen eine Organisation sowie einen Dirigenten, der die Leitung übernimmt, die verschiedenen Orchestergruppen anweist und koordiniert. Im Gegensatz dazu gehört es geradezu zum Selbstverständnis von Improvisationsmusikern, daß sie die Verantwortung für alles, was sie tun, stets selbst tragen. Für ein Improvisationsorchester ist es deshalb letztlich undenkbar, mit einem Dirigenten zu arbeiten – beim Splitter Orchester gibt es ihn jedenfalls nicht. Umgekehrt ist der Verzicht auf eine Partitur in der Orchestermusik bis heute kaum vorstellbar, zu komplex sind die musikalischen Abläufe, zu aufwendig die Organisation zwischen den verschiedenen Orchestergruppen und erst recht zwischen den Musikern. Das Splitter Orchester zwingt uns, diese alten Überzeugungen neu zu überdenken, die Einwände und Vorbehalte gegenüber der Improvisation bei größeren Besetzungen noch einmal zu überprüfen und wenigstens in groben Zügen den Möglichkeitsraum zu skizzieren, in dem sich ein Projekt wie das Splitter Orchester bewegen könnte.
Arbeitsteilung oder Basisdemokratie
Die Idee der Improvisation ist noch immer eng verbunden mit der Vorstellung vom basisdemokratischen, eigenverantwortlichen und selbstorganisierten Handeln. Fast noch wichtiger als die politische Seite dieser Idee oder ihre ästhetischen und musikalischen Implikationen ist die ungewöhnliche Verbindung zwischen dem Musikalischen und dem Politischen, die sie bewirkt. Allerdings kommt die Verbindung von radikalen politischen Ideen mit radikalen ästhetischen nicht so selten vor. Den Anfang bildet wohl Friedrich Schillers Plädoyer für eine ästhetische Erziehung, die politische Veränderungen bewirken könnte. In der Musik war es John Cage, der den Klang befreien wollte und deshalb die Vorstellung kritisierte, Musik könne die Ideen eines Komponisten darstellen. Cornelius Cardew hingegen gründete das Scratch Orchestra, in dem Amateure und professionelle Musiker gemeinsam neue Formen sozialer und musikalischer Aktivität entwickelten.
Anders als in den 60er und 70er Jahren, den Zeiten intensiver Diskussionen der Ideen von Cage und Cardew, ist der Ton heute erheblich entspannter, die Ziele sind pragmatischer geworden. Selbstorganisierte Ensembles sind inzwischen weitverbreitet, die mit ihnen verbundenen demokratischen Ideen längst kein Streitpunkt mehr. Doch in der Improvisation geht es um mehr, nämlich insbesondere darum, die Idee der Emanzipation zur Basis der musikalischen Interaktion zu machen. Um auf den Dirigenten zu verzichten, muß man die Zusammenarbeit im Ensemble intensivieren, die unverzichtbaren Aufgaben des Dirigenten müssen von allen Musikern arbeitsteilig übernommen werden. Hingegen hat sich die alte Unterscheidung von Werk und Aufführung, trotz vieler Vorbehalte und Einwände, letztlich als nützlich erwiesen. Wichtiger ist, daß jeder Musiker eigene Konzepte entwerfen kann, die dann in der gemeinsamen Arbeit weiterentwickelt und schließlich aufgeführt werden. Auch die traditionelle Unterscheidung von Komponist und Interpret existiert noch, allerdings dient sie nicht mehr dazu, Personen zu unterscheiden, sondern vielmehr Tätigkeiten, die letztlich beide unverzichtbar sind. In der Improvisation sind fast alle Musiker zugleich Komponisten, die weite Verbreitung der Bezeichnung performer-composer spricht für sich selbst.
Die Entwicklungslogik von Arbeitsphasen
Viele Musiker des Splitter Orchesters gehören zur Berliner Improvisationsszene. In der Berliner Szene, die lange Zeit von sehr programmatischen Positionen geprägt war, herrschen in der jüngsten Zeit eher pragmatische Haltungen vor, für die kontinuierliche Arbeit an den eigenen spielerischen und sozialen Fähigkeiten sowie an den spezifischen Möglichkeiten der Improvisation war dies kein Nachteil. In dieser Situation erscheint die Gründung des Splitter Orchesters, unabhängig davon, wie sie tatsächlich zustande kam, als logischer Entwicklungsschritt.
Grundsätzlich stellt das gemeinsame Proben für die Improvisation die wichtigste Arbeitsphase dar, der Verzicht auf eine Partitur steigert ihre Bedeutung sogar noch. Die Probe ist beides: Arbeit am musikalischen Konzept wie Vorbereitung der Aufführung. Ein Konzept kann jedes Mitglied des Ensembles einbringen, doch die entscheidende Arbeit liegt in der gemeinsamen Arbeit an einem solchen Konzept während der Proben. Insofern findet das Komponieren im traditionellen Sinn in der Improvisation höchstens noch in rudimentärer Form statt.
Ein Forschungsprojekt zwischen Spiel und Experiment
Solange sich noch keine eigene Tradition der Improvisation in großen Besetzungen entwickelt hat, wird sich das Publikum fragen, inwiefern die Improvisation eine Alternative zur gängigen Organisation musikalischen Zusammenspiels durch die Partitur sein kann. Umgekehrt wird es für ein Improvisationsorchester zunächst darauf ankommen, sich mit den spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten der großen Besetzung intensiv auseinanderzusetzen. Von besondere Bedeutung sind in diesem Zusammenhang, die Erfahrungen und die Fähigkeiten, die sich die Improvisationsmusiker in kleineren Ensembles erarbeitet haben – die Frage wird sein, wie diese sich für das Orchester produktiv machen lassen. Immer wieder wird zu überprüfen sein, wie die Vergrößerung klingt – komplexer, dichter, durchlässiger, mit mehr unterschiedlichen Perspektiven und Entwicklungslinien? Oder muß es nicht vielmehr um Reduktion, Konzentration, Vereinfachung gehen?
Ein Improvisationsorchester setzt sich, ganz wie jedes kleinere Improvisationsensemble auch, mit unterschiedlichsten Aspekten des Musikalischen auseinander. Dazu gehört der Klang selbst, aber auch der musikalische Prozeß und die musikalische Form. Untrennbar mit dieser Arbeit verbunden ist die Erkundung neuer Spielformen und Klanggenerierungstechniken, außerdem müssen unterschiedlichste Interaktionsformen zwischen den Musikern, bis hin zur Bildung von kleineren Gruppen innerhalb des Ensembles, erprobt werden. Grundsätzlich muß es bei allen diesen Aspekten der Improvisation stets auch darum gehen, die Erfahrungen aus der Arbeit in kleineren Ensembles für das Zusammenspiel in großer Besetzung produktiv zu machen.
In der Improvisation entsteht die Musik gewissermaßen im Zuge des Experimentierens mit dem Klangkörper, der keinesfalls – und je größer die Besetzung, desto weniger – als homogen gelten kann. Doch die Differenz gegenüber dem Komponisten, der Ideen auf dem Notenblatt fixiert oder am Klavier erprobt, ist offensichtlich. Zum besonderen Potential der Improvisation gehört der spielerische Charakter dieser Erkundungsprozesse sowie die Möglichkeit, immer wieder und ohne große Vorlaufzeit unterschiedlichste Alternativen durchzuspielen, eine Möglichkeit, um den jeder Komponist ein solches Ensemble beneiden dürfte. Für das Improvisationsorchester selbst wird es darum gehen, das Zusammenspiel kontinuierlich zu intensivieren, damit es souverän über die bestehenden Möglichkeiten verfügen oder aber sich spielerisch auf unbekannte Prozesse einlassen kann. Als Hörer hingegen sind wir gespannt auf die Konzerte, in denen wir die Musik des Splitter Orchesters kennenlernen können.
Sabine Sanio, geb. 1958, studierte Germanistik und Philosophie, Promotion, lebt in Berlin. Derzeit Gastprofessorin für »Theorie und Geschichte auditiver Kultur« am Studiengang Sound Studies der UdK Berlin; zahlreiche Veröffentlichungen zu musikalischen Strömungen in den Grenzbereichen zwischen Musik, bildender Kunst und Literatur; zum Verhältnis von Kunst und Medien sowie zur Ästhetik des 20. und 21. Jahrhunderts, in Buchform: »Alternativen zur Werkästhetik« (Saarbrücken 1999) sowie: »1968 und die Avantgarde« (Sinzig 2008).